Archives of the Body | Überblick

Archives of the Body Archive des Körpers
Archive des Körpers

Überblick

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Warum gerät der Körper in unseren Fokus, und was ist es, das uns an ihm, an seinen Systemen, den Zellen und Nerven, und der Art und Weise, wie er Informationen verarbeitet beziehungsweise wie er als Summe von Informationen verarbeitet wird, beschäftigt? Im Sinne seiner biologisch-psychisch-mentalen Organisation ist der Körper singulär, seine Verfasstheit epigenetisch. Doch schon als Archiv von Erfahrungen und Speicher dessen, was ihm zustößt, erhält er etwas Unpersönliches. Geschlecht, Hautfarbe, Sexualität sind keineswegs nur individuelle, sondern immer auch mit anderen geteilte physische (wie ebenso psychische) Merkmale. Sozial gesehen treffen Körper aufeinander, und Körper werden in distinkten politischen Praktiken isoliert. So ist die Gemeinsamkeit der Körper brüchig geworden; heutiges politisches Denken muss das Gemeinsame aktualisieren (Tomšič). Medizinisch betrachtet wurde und wird der Körper durch eine Vielzahl von Apparaten vermessen, um im Individuellen eine allgemeine Ordnung zu erkennen und sie übertragbar zu machen: Analoge fotografische Untersuchungsreihen archivierten die menschliche Anatomie ebenso wie alles als pathologisch Geltende; heute dienen diesem Ziel KI-basierte Bilddiagnosen. Doch (weibliche) Körper lassen sich, mit der französischen Philosophin und Schriftstellerin Hélène Cixous, auch vielstimmig er-schreiben und »auf-zählen« (Haas) – nicht unähnlich Codes, die in ihrem Wechselspiel von Nullen und Einsen die Vorstellung von Geschlecht ›programmieren‹ und dabei das Potenzial haben, die 0 im Sinne des Nichts oder der Leere eine alternative Subjektivierung entgegenzusetzen (Mayer).

Still aus dem US Civil Defense Film Atomic Alert (1951), 10:34 Min., Courtesy of the Diefenbunker: Canada’s Cold War Museum.

Marquis de Geek [Steven Goodwin], Implementierung des allerersten Computerprogramms (Ada Lovelaces Bernoulli-Zahlen Berechnung in Notiz G) in Javascript unter Verwendung des Akiyama-Tanigawa-Algorithmus, 2015, aus: Katrin Mayer, convulsa or the Need for Each Other's Relay, 2024, Visual Essay.

Bodies in Context

Es gibt keine Konstanz des Körpers, keine überhistorische Materialität eines Leibes. Die folgenden Beiträge zeichnen spezifische Diskurse der medizinischen Formatierung und der medialen Sichtbarmachung von Körpern zu bestimmten historischen Zeitpunkten nach. In »Scanning and Seeing Through: Körper, Codes und medizinische Bilder in den künstlerischen Arbeiten von Mariechen Danz und James Richards« analysiert Vera Tollmann den Blick auf den (kranken) Körper, der dem medizinischen Apparat mit seinen Scannern und KI-gestützten automatischen Bilderkennungsdiensten implizit ist. Die unpersönlichen Abstraktionen von Organen, die er produziert, fordern nicht nur die Medizin heraus, sondern auch für Künstler:innen von Interesse, die die ihnen inhärenten Körperkonzeptionen herausstellen. Edna Bonhomme reflektiert in »Betrayed by One of their Own« das Erbe der Tuskegee-Syphilis-Studie – durchgeführt zwischen 1932 und 1972 –, in der schwarze Männerkörper in den Vereinigten Staaten für medizinische Experimente benutzt wurden. Ebenso subtil wie kritisch arbeitet Bonhomme die Rolle der Krankenschwester heraus, die auf zweifelhafte Weise das Einverständnis der Männer zur Teilnahme an der Studie einholte, indem sie, paradoxerweise, deren Vertrauen über eine geteilte Identität und einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund erwerben konnte. In »Krankheit als Ereignis« zeichnet Zofia nierodzińska die Darstellung von Brustkrebs in Polen während der sogenannten Transformation, im Postkommunismus der 90er Jahre nach und stellt über ihre kuratorische Praxis eine Verbindung zu den aktuellen Patientinnenbewegungen her. In Anlehnung an Judith Butler geht es darum, dass alle Körper Verletzlichkeit teilen und durch diese Gemeinsamkeit konstituiert sind. Es gibt nicht den einzelnen kranken Körper oder das eine kranke Individuum, im Sinne eines kollektiven Körpers stellen sich die Krebserkrankten gemeinsam ihrer Krankheit. Sarah Salavanpour greift das Bild von Brustkrebs in ihrem ausführlichen Porträt der iranischen, in Großbritannien lebenden Filmemacherin Mania Akbari und in Akbaris autobiografischem Dokumentarfilm A Moon for My Father (2019) auf. Salavanpour demonstriert Film als Medium der Untersuchung persönlicher und kultureller Veränderung und verortet darüber hinaus den geschlechtlichen Körper in der Migration.

Archivfoto: Tuskegee-Syphilis-Studie, aus den Aufzeichnungen der Zentren für Seuchenkontrolle und -prävention; mit freundlicher Genehmigung der National Archives at Atlanta; National Archives Identifier: 803935.

Autor:in unbekannt, ohne Titel, ca. 1995, Foto aus dem Archiv des Verbands Amazonki Warszawa Centrum, analoger C-Print, 10×15 cm.

Medical Narratives

In heutigen kybernetischen Systemen und Zeiten von Smartness macht es den Anschein, als bestünde der Körper nur noch aus Daten: Daten archivieren Verhaltensweisen eines Menschen, seine alltäglichen Aktivitäten und Gewohnheiten, seinen physischen und psychischen Gesundheitszustand. Die digitale Forensik erfolgt mit wie ohne Einverständnis des Subjekts; auf jeden Fall werden Daten wie ein Rohstoff extrahiert, ausgewertet und häufig kommerzialisiert. Ein vergleichbares, dieses Mal jedoch vom Militär und nicht der Industrie genutztes Datenverhalten erkennt Vanessa Gravenor im Zusammenhang mit ihren Recherchen in einem Kriegsarchiv; in »Fealing Nervous in the Archive« schließt sie es mit der ›Psyche‹ des Kalten Krieges kurz. In einem allgegenwärtigen Überwachungssystem, in dem der Körper und seine Funktionen in Daten umgesetzt wird, kann feministisches Glitching Dissens praktizieren, wie Ute Kalender in »Feministische Digitalmanifeste als Mikroarchive kommender Körper?« vorschlägt. Um einer ultimativen Form von Archivierung samt dem neoliberalen Traum von ›ewiger Vitalität‹ etwas entgegenzusetzen, spekuliert Luzia Cruz in »Shaping Digitized Stories« über Kryokonservierung, mutet doch die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod selbst wie Science-Fiction an. Bei diesem Forschungsfeld handelt es sich um das Anhalten von Stoffwechselprozessen im Tieffrieren von Körperzellen für spätere Zwecke oder von ganzen Körpern in der Hoffnung, im Fortschritt der Wissenschaft wiederbelebt zu werden.

Musée des collections historiques de la préfecture de police, Paris.

Alphonse Bertillon (1853-1914), System zur Personenidentifizierung in der Kriminologie (Bertillonage), Collage aus anthropometrischen Fotografien (Detail), 1901/1914.

Foto einer Nordamerikanischen Radar-Luftverteidigungsanlage (NORAD), Kanada, um 1950, mit freundlicher Genehmigung des Diefenbunker: Kanadas Museum des Kalten Krieges.

Data Bodies

Psychische Verletzungen können sich insofern von einzelnen Subjekten lösen, ja sie ›überleben‹, als Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden können (transmission). Krieg, einen Unfall oder (sexuelle) Gewalt zu erleben, kann zu einer traumatischen Erfahrung werden, sich zum Trauma entwickeln. Nicht das Ereignis selbst bewahrt die Verletzung auf, sondern sie wird im Nervensystem gespeichert, das so eine Art von unbewusstem Archiv darstellt: ein Trauma wird gewesen sein. Sowohl Verdrängung als auch Unterdrückung stellen Reaktionen auf die Archivierung dar: Hardcoding oder Softcoding. Das Archiv zeigt sich über die Haut, in den Organen, in Schmerzzuständen, in Depression oder Wahnvorstellungen, aber auch in Sprache und Bild. Darüber hinaus ist es nicht ausschließlich subjektiv, sondern transindividuell verfasst. In »Bodies, Bound and Unbound: Some Notes on War and Psychic Fragmentation« kann Takeo Marquardt anhand der Forschungen des britischen Psychoanalytikers Wilfried R. Bion zeigen, wie Wahrnehmung (von Krieg) zu psychischer Erfahrung wird. Gewalt, Massaker löschen Menschen aus. In »Places of Continuity« zeigt Daniel Suárez, auf welche Weise sich psychisch Traumatisches über die Ermordung und Verschleppung von Bewohner:innen hinaus in den von paramilitärischen Gruppen und Bürgerkriegen verwüsteten Landschaften und Gegenden Kolumbiens manifestiert.

»Richard’s« Zeichnung, ohne Datum [1941], Wellcome Collection Archive, CC BY 4.0 Deed | Attribution 4.0 International | Creative Commons.

Psychic Narratives

Physische Gewalt, Krieg und nukleares Material wirken auf die molekulare Ebene des Körpers ein, sie greifen sie an oder zerstören sie sogar. Während sich die Zeitgeschichte, ihre ökologischen, ökonomischen und Gesundheitspolitiken, wandeln, sind ihre Spuren oftmals für die Öffentlichkeit gezielt verwischt und nur noch mühsam aufzuspüren. Ulrike Gerhardt fokussiert den Uranbergbau der DDR und spürt der Überschneidung von historischer Geheimhaltung und physikalischer Unsichtbarkeit der Wirkung des radioaktiven Metalls nach. »Strahlen aus dem Archiv der DDR-Opposition: Beunruhigende Materie in Sonne Unter Tage (2022)« hat die künstlerischen Mittel im Blick, die der Film zum Einsatz bringt, um das mehrfach Unsichtbare wahrnehmbar zu machen. Körper hingegen haben Strahlung bis in die potenzielle Zellmutation hinein ›archiviert‹; erst Symptome brächten eine Schädigung ans Licht. Historisch besonders einprägsam ist die Auswirkung der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl auf Generationen einer Familie, wie Serafima Bresler in »Revealing My Invisible Catastrophe« anhand historischer und technischer Daten zum GAU sowie persönlicher Erzählungen reflektiert. Diese kreisen um Ungewissheit, politisch intendiertes Verschweigen und Desinformation über die gefährliche Strahlenwirkung. Ebenfalls im Zusammenhang mit Radioaktivität reflektiert Kristina Savutsina sich in der Rolle der »Tochter eines verstrahlten Patriarchen«. In explizit feministischer Sichtweise kontaminiere nämlich nicht nur radioaktive Strahlung; besonders wirksam werde sie zusammen mit den ›toxischen Partikeln des Patriarchats‹. In »Shades of Blue« fragt Laura Gómez nach den Dimensionen des Schmerzes. Sich zu verletzen, verletzt zu werden, krank zu sein und zu leiden sind Erfahrungen, die weit über das verstörende individuelle Erleben hinaus in die gesellschaftspolitische Wahrnehmung reichen. Welchen Ausdruck nimmt psychophysische Leiden zwischen Sprachlosigkeit, gequältem und ritualisiertem Sprechen an? Was heißt kränklich zu sein für die Selbstwahrnehmung, die einerseits eine Fremdwahrnehmung spiegelt, andererseits zur Selbstentfremdung führen kann?

Alina Popa, Zeichnungen mit geschlossenen Augen, Notizbuch auf dem Brustkorb, Dezember 2018 – Januar 2019.

Laura Gómez, Foto aus der persönlichen Sammlung der Autorin, April 2022.

Vulnerable Bodies

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