Archives of the Body | Einleitung

Archives of the Body Archive des Körpers
Archive des Körpers

Einleitung

Überlegungen zum Verhältnis von Archiv und Körper

de

Hanne Loreck

Im Blick auf den menschlichen Körper ist die Ordnungsform ›Archiv‹ als das techno-mediale Arsenal zu verstehen, das Körper und Subjekte historisch geformt hat und weiterhin Identitäten, Handlungsweisen, Machtverhältnisse und Gemeinschaften gestaltet. Das ›Archiv‹ funktioniert als epistemologisches Regime. Es besteht aus Repräsentationssystemen, Diskursen, Institutionen, Konventionen, Praktiken und kulturellen Vereinbarungen. Es bestimmt, welche Körper, Geschlechter und Sexualitäten sichtbar werden und welche nicht, welche kulturell, sozial und ökonomisch zählen und welche als nutzlos gelten. Denn Körper sind nicht einfach gegeben, sondern werden durch Prozesse der Beschreibung, Abformung, Modellierung, Nach- und Abbildung hervorgebracht. Nie ist der Körper eine Singularität. Manchen Körpern wurde der Status politischer Subjekte zuteil, der anderen Körpern verweigert wurde (Foucault; Butler; Mbembe). In diesem Sinn versammelt das ›Archiv‹ unterschiedliche Dokumente und Datensätze, die zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten Körperkonzepte geprägt und dafür gesorgt haben, aus dem Durchschnitt die Norm zu machen und das Normale vom Pathologischen zu sondern. Bemerkenswerterweise folgte die wertende Differenzierung in das Normale, die Normalität und das Anormale um 1850 – etwa zeitglich mit der Erfindung der Fotografie – auf die Konzeption der Natur und des Natürlichen ein Jahrhundert zuvor. Wissenschaftliche Disziplinen wie Medizin, Psychologie oder Soziologie, aber auch ästhetische Produktionen griffen und greifen auf dort festgelegte Parameter von physischer, geistiger und psychischer Gesundheit und von konformen sozialen Verhaltensweisen zurück und reproduzieren und idealisieren sie gleichermaßen gezielt wie implizit. Anatomie, ›race‹, Geschlecht, Sexualität und physische, psychische und soziale Un/Fähigkeiten eines Subjekts erfuhren ihren Zuschnitt am deutlichsten in taxierenden ethnischen, kolonialen rassisierenden oder klassisierenden (analogen) Fotografien von Körper-, physiognomischen und Geschlechtsvermessungen. Solche Taxonomien setzen sich in biometrischen Datenerhebungen fort. Auch mit der sogenannten KI sind diese Raster keineswegs obsolet, speisen pränormierte visuelle Daten doch deren Algorithmen (Chude-Sokei).

Mit den digitalen Medien hat sich das Verständnis vom Archiv als strukturierte Sammlung und organisierter Bestand an einem bestimmten Ort verschoben und wird mit dem Verb ›archivieren‹ fließend: die von User:innen permanent produzierten Daten zu speichern und auszuwerten. Aus Sicht der Medienentwicklung scheint die (analoge) Dokumentation von Befunden von einer algorithmisch gesteuerten Bilddiagnose abgelöst. Aber stimmt das? Denken wir nur, wie schockierend die ersten Röntgenaufnahmen mit ihrer visuellen Offenlegung vormals ohne Eingriff unsichtbarer Strukturen, von Skelett oder Lunge, wahrgenommen wurden. Mittels der damals innovativen Technologie war ein insofern neues Körperdispositiv entstanden, als Körperinneres und Körperoberfläche nicht länger kategorial voneinander getrennt, sondern nunmehr als jeweilige Schnittstellen zwischen Innen und Außen, Abbildung und Herstellung, verstanden werden mussten. Die Triangulierung zwischen Körper, Welt und (optischen) Technologien ist also nicht erst eine Errungenschaft des Digitalen. Aber die Digitalität hat die Geschwindigkeit der gegenseitigen Rückkoppelung und die Konsequenzen daraus potenziert. Die Erfahrung des erkrankten Individuums, in automatisierten bildgebenden Diagnoseverfahren, in eine Summe von Pixeln zerlegt, abstrahiert zu werden, steht in einem Spannungsverhältnis zur Forderung des Denkens eines Gemeinschaftskörpers auch für den psychomedizinischen Blick auf den Körper. Dessen Bedingung sind ebenfalls gewisse ›kritische‹ Abstraktionen. Als soziale, kulturelle und politische, kurz, planetare Ganzheit gedacht, muss dieser Gemeinkörper subjektive und kollektive Handlungen samt ihrer zugrundeliegenden Strukturen derart umfassen, dass seine inhärenten Ungleichheiten – ökonomischer, sozialer, geschlechtlicher, sexueller, ethnischer und auf Hautfarbe bezogener Art – nicht länger implizit vom universalisierten weißen, männlichen, westlichen Subjekt verkörpert werden.

Für unser Projekt verallgemeinert und nicht als konkrete Einrichtung an einem bestimmten Ort verstanden, umfasst das ›Archiv‹ Dokumentarisches und Projektives, das Physisch-Materielle des Alphanumerischen und von Fotografien, Filmen und Tonaufzeichnungen ebenso wie das Virtuelle und Imaginäre des Algorithmus. Ein etabliertes Handbuch wie das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (in seiner 2022 überarbeiteten Ausgabe von 2013 das DSM-5-TR) als weltweit anerkanntes Verzeichnis psychischer Erkrankungen und Angststörungen, mehr noch als ihr Klassifikationssystem, muss sich zu den Erkenntnissen der jungen Leitdisziplin, der Neurowissenschaft, verhalten (Malabou, Angerer). Aktuelle Psychopathologien stehen zudem in Relation zur pessimistischen Zukunftsdiagnose einer »neuen nekropolitischen Allianz zwischen dem kolonialen Patriarchat und den neuen pharmakopornographischen Technologien«, auf die heute schon die Medizinalisierung so genannter ›psychiatrischer Pathologien‹ zusteuern (Preciado).

Neurowissenschaftliche Ansätze sind in Bezug auf Körper- und Subjektkonzepte auch deswegen nicht mehr wegzudenken, weil Hirn und Computer über Sammeln, Vernetzen und Verschalten als strukturell ähnlich gelten. Wir selbst ›archivieren‹ permanent mittels der smarten Aufzeichnungen jeder unserer ›Partizipationen‹ bzw. Bewegungen, von Ernährungs- und Schlafgewohnheiten zur Herzfrequenz (Halprin). Mit dem Versprechen von Optimierung werden die Daten, die den Eindruck einer individuellen Statistik vermitteln, wissenschaftlich, technisch, kommerziell oder kommunikativ ausgewertet und verwertet. Eine höhere Datendichte, so die Diskussion nach Covid-19, würde möglicherweise auch ein effektiveres Pandemie-Managements bedeuteten.

Tagung (25. bis 27. April 2024, HFBK Hamburg) und Publikation beabsichtigen, sowohl das psychophysisch und mental »informatierte Organ« genannt Körper als auch den »Datenkörper« (Hayles; Koopman) in kulturhistorischer und aktueller Perspektive dahingehend kritisch zu beleuchten, welche ›Archive‹ welche Körperbilder und -diskurse durchgesetzt haben. Wir fragen, wie sich der Körper als individueller und transgenerationaler Langzeitspeicher von, oft unsichtbaren, Verletzungen aus Katastrophen wie radioaktiver Verseuchung, aus Krieg, Autoritarismus, Flucht und Migration abbildet und wie er hörbar wird? Gleichermaßen steht zur Debatte, was alternative wissenschaftliche Ansätze und was eine subversive Fiktionalisierung und Virtualisierung des Körpers, seiner Organe und Funktionen leisten können und was die Anerkennung seiner Gespenster? (Gordon) In Relation zum politisch-philosophischen bzw. ethischen Konzept der Verletzlichkeit (Butler) zeigen sich Verwundungen als physische Läsion wie als psychische, als Traumata, noch einmal anders, wenn wir aktuell Zeug:innen von Kriegen und totalitären Bewegungen werden: Gewalt und Hass, die sich als Schmerz, Leid, Verwundung in einzelne Körper einschreiben, sie vernichten und die zugleich im Gemeinschaftskörper ›archiviert‹ werden. Ein so verstandenes Archiv schließt mit seinen persönlichen wie offiziellen Dokumentationen an unterschiedliche öffentliche und geheime historische Datenbanken des militärisch-medizinischen Komplexes an.

Dabei geht es Archive des Körpers – Der Körper in Archivierung weder darum, einem Kulturpessimismus bezüglich des Digitalen und der KI, noch einem Determinismus im Algorithmus das Wort zu reden, sondern aus dem ›Archiv‹ heraus auch ein Potenzial für politisch-ästhetischen Widerstand und Aktivismus gegen die Herrschaft des Normalen, mithin Normierten und Normierenden zu konfigurieren. Nehmen wir auf wissenschaftlicher Seite die Neurodiversität. Anstelle der vormaligen Beurteilung von Entwicklungsstörungen anerkennt sie nun Varianten in der Entwicklung des Gehirns an, und ein neues Verständnis der brüchigen Semantik in der Aphasie trägt ihrer Trauma-Induktion Rechnung (Malabou).

Ausstellungen der letzten Zeit thematisierten “Human Brains: It Begins with an Idea“, Fondazione Prada, Venedig (2022) oder »Queering the Crip, Cripping the Queer: An Exhibit on Queer/Disability History, Activism, and Culture«, Schwules Museum, Berlin (2022); »Arch of Hysteria. Zwischen Wahnsinn und Ekstase« aktualisierte jüngst in Salzburg in zeitgenössischen künstlerischen Positionen die klassisch Frauen* zugeschriebene psychosozial revoltierende hysterische Disposition; »Future Bodies of a Recent Past«, München (2022), hatte den historisch vorausschauenden Blick auf die Verschränkung von Körper und Technologie in der Skulptur gerichtet. Mit seinem Fokus auf künstlerisch-wissenschaftlichem Forschen bringt unser Projekt dort aufgeworfene Fragen in eine eigene Form. Studierende der HFBK werden eine Ausstellung mit ihren über mehrere Semester aus multikultureller Perspektive entwickelten Arbeiten zum Körper-Archiv eröffnen.

Hanne Loreck ist Professorin für Kunst- und Kulturwissenschaft, Gender Studies an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, deren Vizepräsidentin sie von 2006 bis 2019 war. Sie publiziert zu aktuellen Kunstpositionen, zur Kunst- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, zu Modephänomenen und zur Kulturtheorie mit einem Schwerpunkt auf Fragen von Subjektivität, Sichtbarkeit, Bildlichkeit und Oberflächen. Zuletzt erschien „Sissy stuff, mainly needlepoint”– Anni Albers an der Staatlichen Kunstgewerbeschule zu Hamburg / „Sissy stuff, mainly needlepoint”—Anni Albers at the Hamburg State School of Arts and Crafts (Hamburg: Materialverlag, 2022); Camouflage. Kunst und Kultur der Tarnung erscheint 2024 (Hamburg: textem).

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