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Strahlen aus dem Archiv der DDR-Opposition: Beunruhigende Materie

in Sonne Unter Tage (2022)

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Ulrike Gerhardt

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Strahlen aus dem Archiv der DDR-Opposition: Beunruhigende Materie

Ulrike Gerhardt

In einem Gespräch mit der Zürcher Kunstwissenschaftlerin Julia Wolf im Winter 2023 über die filmische Arbeit Sonne Unter Tage (2022) von Mareike Bernien und Alex Gerbaulet kam in Hinblick auf die Rolle des Urans der Begriff der »beunruhigenden Materie« (engl. »troubled matter«) auf. 1 Uran als fossiler Energieträger bzw. Kernbrennstoff wird in Berniens und Gerbaulets Film, der die Geschichte der SDAG Wismut und ihrer Abbaugebiete in Sachsen und Thüringen ab dem Zeitpunkt ihrer Entstehung bis in die Gegenwart hinein erforscht, als ein toxisch belebtes, leuchtendes Gestein inszeniert. Aufgrund seiner Extraktion aus der Erde und seiner der Wahrnehmung ohne Hilfsmittel wie UV-Licht oder Geigerzähler verborgenen Strahlung wirft dieser Rohstoff ein besonderes Verhältnis zur Sichtbarkeit auf.

Der Film Sonne Unter Tage folgt der Fährte dieser verborgenen Strahlung zunächst horizontal – durch die heutigen, anthropozänisch geprägten Landschaften – und vertikal – durch den Boden als Archiv. 2 Wir sprachen darüber, dass koloniale, kriegerische und extraktive Praktiken Altlasten, Erbschaften und Wunden in Körpern, Landschaften und Gesteinsschichten hinterlassen; eine physische und psychische Beunruhigung oder beunruhigende Schwingung, die in der Folge von Materialitäten und der Erdoberfläche ausgeht. Auf der Suche nach einer Bezeichnung kam uns dann die Idee von »beunruhigender Materie« in Anlehnung an Donna Haraways Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene (2016) in den Sinn. Vom französischen Ursprung des Wortes trouble ausgehend, lässt sich das Verb to trouble als »aufwirbeln«, »wolkig machen«, »stören«, aber auch als Intention, »Unruhe zu stiften«, übersetzen. 3 Wir erinnerten uns an Haraways Diktum, dass Menschen sich mit unfassbaren Phänomenen des Klimawandels auf eigensinnige Art verwandt machen bzw. produktive, eigensinnige Verwandtschaften eingehen könnten. 4 Vor diesem Hintergrund versuchten wir, die Vorstellung von einer Materie, die ein Unruhig-, Empfindsam- und Verletzlich-Bleiben erfordert, während sie ionisierende Strahlung absondert, in Worte zu fassen. Da auch heute, über 30 Jahre nach der Schließung der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut am 1. Januar 1991, das Abtasten des Erdbodens Ausschläge des Geigerzählers verursacht, erschien uns der Begriff der weiterhin »beunruhigenden Materie« im Kontext von Berniens und Gerbaulets künstlerischer Forschung treffend. Im Folgenden möchte ich fragen: Wie und mit welchen Zugängen nähern sich die Künstlerinnen dieser »beunruhigenden Materie«? Wie wird sie verbildlicht, vorstellbar, erzählbar? Auf welche Weise entziehen sich die Geschichten dieser Materie und ihrer versehrten und verstrahlten Landschaften unserer Vorstellungskraft?

Dispositiv I: Die unerzählten Geschichten der Wismut

Die DDR war der viertgrößte Uranproduzent der Welt, kurz nach Kriegsende, 1946, begann der Uranerz-Abbau an verschiedenen Standorten in Thüringen und Sachsen. Unter dem Tarnnamen »Wismut« wurde die sowjetische Atomindustrie 44 Jahre lang mit mehr als 210.000 Tonnen des radioaktiven Rohstoffs Uran versorgt, was 60 Prozent des Atomprogramms der UdSSR abdeckte. Das Wismut-Unternehmen avancierte damit zum größten sowjetischen Auslandsbetrieb. Die sowjetische Besatzungsmacht verfolgte mit der SDAG Wismut das Ziel – weitestgehend ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt –, die deutschen Uranvorkommen auszubeuten. 5

Seit 2018 setzen sich die Künstlerinnen mit dem Uranbergbau der Wismut im Rahmen des Projektes »wildes wiederholen. material von unten« – Künstlerische Forschung im Archiv der DDR-Opposition auseinander. Sie forschten u.a. im Museum Uranbergbau Bad Schlema, im Schaubergwerk Ronneburg, im Archiv Bürgerbewegung Leipzig sowie im Archiv der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft, und ein Teil des von den Künstlerinnen rezipierten Wissens stammt aus der DDR-weiten Anti-Atombewegung und aus lokalen Umweltinitiativen. 6 Berniens und Gerbaulets Prozess künstlerischer Forschung fand über mehrere Jahre statt, und seine Findungen werden auf narrativer und bildlicher Ebene im Film zusammengeführt. Insgesamt betonen die Autorinnen, dass die historischen Materialien zur Wismut im Archiv der DDR-Opposition recht begrenzt seien und nennen die Wismut einen streng geheimen »Staat im Staate«. 7 Erst ab 1986 – ab der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl – rückten die Landschaftszerstörung, die Umwelt- und Gesundheitsgefährdungen des Uranbergbaus stärker in den Fokus der Umweltbewegung der DDR. 8 Das Ausmaß der geschundenen Landschaft nach Schließung der Wismut lässt sich anhand folgenden Zitats nachvollziehen:

»Bis 1990 hatten die Kumpel in Sachsen und Thüringen über 210 000 Tonnen Uran aus der Erde geholt. […] Auf einer Fläche von rund 3 700 Hektar blieben 48 radioaktiv kontaminierte Halden mit über 300 Millionen Kubikmetern Gesteinsresten zurück. Die Aufbereitung des Urans zu Yellowcake wiederum hinterließ weitere 160 Millionen Kubikmeter Schlämme mit der ganzen Palette radioaktiver Zerfallsprodukte und etlicher anderer Schadstoffe.« 9

Die Geschichte der SDAG Wismut ist demzufolge ein Beispiel dafür, wie sich das Anthropozän sozialistischer Färbung in die Landschaft einschrieb. Sie führt hinein in die »große Transformation der Natur« 10, mitten in die streng geheimen und daher schwer erfassbaren Praktiken des fossilen Sozialismus. Die materiellen, ökologischen und chemischen Konsequenzen des nuklearen Wettrüstens während des Kalten Kriegs waren im »Osten« (wie auch im »Westen«) meist so unbekannt wie verheerend. 11

Nun zum Uranbergbau und seinen Folgen für die Menschen: Die Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Angelika Claussen beschreibt, dass Gesundheits- und Arbeitsschutz in den aktiven Jahren der Wismut kaum eine Rolle spielten und medizinische Studien dazu ebenfalls untersagt waren. 12 Weiterhin betont sie, dass 1948 circa 12.000 Frauen bei der Wismut AG im Einsatz und über und unter Tage in den Schächten und in der Erzwäsche tätig waren. 13 Claussen hebt zudem hervor, dass Frauen* als Arbeiterinnen und Anwohnerinnen doppelt so strahlenempfindlich seien wie Männer. 14 Der Physiker und Umweltaktivist Sebastian Pflugbeil beschreibt die harten Arbeitsbedingungen in der Frühphase der Wismut wie folgt:

»Die Wismut war eine russisch-deutsche paramilitärische Struktur […]. Dort herrschten ziemlich haarsträubende Arbeitsbedingungen: Die von der Straße gesammelten Leute – Kriminelle, Prostituierte, Kriegsgefangene – wurden mit Kalaschnikows und Kampfhunden unter die Erde geschickt.« 15

Bezogen auf die unerzählten (und die unarchivierten) Biografien und Geschichten der insbesondere bis Anfang der 1950er in der Uranverarbeitung tätigen Kriegsversehrten, Kriminalisierten und nonkonformen Frauen* existiert in Sonne Unter Tage eine eindringliche Szene, in der die Künstlerinnen die strahlenbedingt drohenden Erkrankungen 16 und vor allem die oben beschriebenen frühen Arbeitsbedingungen in der Wismut reflektieren. In Referenz auf dieses verborgene historische Faktum verwenden Bernien und Gerbaulet ausgesuchte Stills des bis 1972 verbotenen DEFA Films Sonnensucher (1958). 17 Neben Konflikten zwischen der sowjetischen Betriebsleitung und den kommunistischen Arbeiter:innen steht hier das Schicksal einer Frau im Mittelpunkt: einer jungen Sexarbeiterin, die bei einer Razzia in Berlin aufgegriffen wurde und vor der Entscheidung stand: »Wismut oder Knast?« 18 Wie viele andere Personen nach Ende des Zweiten Weltkrieges entscheidet sie sich dafür, unter die Erde zu gehen. Sonne Unter Tage zeigt ein ikonisches Filmstill aus Sonnensucher: Ein blaustichiges Porträt einer etwa 20-jährigen seitlich nach oben blickenden und leicht trotzig wirkenden Frau in typisch kommunistischer Arbeiter:innenpose.

Mareike Bernien und Alex Gerbaulet, Sonne Unter Tage, D 2022, Experimentalfilm, 39 Min., Still: Min. 04:18.

In der filmischen Collage verbinden Bernien und Gerbaulet nun den Arbeiter:innenkörper bzw. dessen sozialistisch-filmische Imagination mit einer Abbildung des Planeten Uranus. In der nächsten Szene wird die Frauenbrigade im Uranus-Schacht der späten 1950er thematisiert. 19 Dieses Beispiel zeigt, wie in Sonne Unter Tage visuelle und narrative Mittel und Archivmaterialien unterschiedlichster Form und Medialität spekulativ eingesetzt werden. Ein einzelnes, fiktionales und namenlos bleibendes Schicksal einer Filmheldin wird blitzlichtartig hervorgehoben und kurz darauf mit den per se weiterhin unbekannten und unerzählten Biografien, Geschichten und Visionen 20 der Arbeiter:innen verknüpft.

Dispositiv II: Die Unvorstellbarkeit

In Swetlana Alexijewitschs Buch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft über die Erfahrungen von Menschen während und nach der Nuklearkatastrophe berichten die Erzähler:innen immer aufs Neue von der verhängnisvollen Unsichtbarkeit und Abstraktheit radioaktiver Strahlung. Die Schriftstellerin beschreibt deren Geruchlosigkeit, Farblosigkeit und Geräuschlosigkeit und die schleichende physische und psychische Veränderung im Nervensystem, die sie verursacht. 21 Hinzu kommt die von der Literaturwissenschaftlerin Gabriele Schwab hervorgehobene politische Ebene der Geheimhaltung und Täuschung, die ebenfalls zur Unvorstellbarkeit der Verletzungsmacht und einem ausbleibenden Mitgefühl mit den Strahlenopfern beitrüge. Gabriele Schwabs Beobachtungen zufolge hat sich die weit verbreitete Politik des Geheimhaltens, Verdeckens und Lügens seitens nuklearer Energieindustrien auch nach Ende des Kalten Krieges fortgesetzt. 22 Schwab beobachtet ein »nukleares Unbewusstes«, das der Verleugnung und dem Nichts-Sehen-Wollen der nuklearen Gefahr entspringt:

»We know of this weapon’s ability to destroy the human as well as other species. How can this knowledge not affect people in their entire existence? How can it not change the sense of who they are, their very sense of being in the world? […] And yet, we rarely think, let alone feel, this way. […] It is a blindness that entails diverse psychic mechanisms, such as denial, splitting, inversion, and reaction formation. It is this blindness that I call the nuclear unconscious.« 23

Als Reaktion auf dieses nukleare Unbewusste und seine umweltlichen Verflechtungen wird die künstlerische (Feld-)Forschung im Film nach dem Ende der SDAG Wismut größtenteils ohne Tageslicht inszeniert. Besonderes Kennzeichen des Films ist die sich durch fast alle Szenen ziehende Dunkelheit. Sonne Unter Tage beginnt mit Bildern eines hügeligen Waldes im Dunkeln, während die blaue Dämmerung gerade noch sichtbar ist. Nach visuell nur schemenhaft nachvollziehbaren mündlichen Beschreibungen einer ländlich-dörflichen Umgebung gibt das filmische Bild die orangefarbenen, flackernden Lichter der industriellen Anlage preis. Die im Dunkeln aufgrund der UV-Strahlung leuchtenden Formkonturen von Radiumpräparaten werden im Film gegeneinandergeschlagen, ein Schweif entsteht, eine Stimme betont durch die wie poetische Stimmübungen anmutenden Laute »Klack, Klack« die Zeitlichkeit des Verfallsprozesses und unterstreicht dadurch die ins Sichtbare gehobene spukartige Agency des Gesteins. Bernien und Gerbaulet machen das Element Uran, seinen Abbau und radioaktiven Zerfall aus neumaterialistischer und spektraler Perspektive vorstellig: »[…] aus der aufgerissenen Erde strahlt ein uraltes Gestein.« 24 Die den Film strukturierenden Fragen spiegeln ebenfalls die Flüchtigkeit und die sich entziehende Natur des Forschungsgegenstandes: »Wann ist der Anfang?«  25, »Was siehst du?«  26, »Wie lange dauert es, bis eine Erinnerung zerfällt?« 27, »Wie tickt die Landschaft?« 28 Die gesamte Geschichte der SDAG Wismut lässt sich als Summe der Effekte einer toxischen und beunruhigenden Materie verstehen, die quasi wie eine unbekannte Akteurin auf das menschliche Nervensystem und die Zellstruktur wirken kann, ohne dass dieser Prozess sinnlich wahrnehmbar wäre. Unvermittelt springt inmitten der Dunkelheit das elektronische Knistern und Knacken eines sowjetischen Geigerzählers an, eine Stimme fragt »Was hörst du?« 29, und eine zweite Stimme antwortet: »Die Häuser vibrieren. […] Die Straße bebt. Meine Füße kribbeln.« 30

Die dunklen Bilder und rätselhaften Monologe geben zugleich einen leisen, nahezu unheimlichen Hinweis auf die Auswirkungen der radioaktiven Verseuchung und zeigen, wie diese die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft übersteigen.

Dispositiv III: Die Verifizierbarkeit

»Ich kneife mich manchmal, ob das alles wirklich wahr ist.«

Min. 36:16.

In Sonne Unter Tage werden verschiedene Nachweise für die unsichtbare nukleare Strahlung angeführt, die sich ihrer sinnlichen Wahrnehmung und einer nichtinvasiven sowie nichtradiologischen Bildgebung stets zu entziehen vermag: unter anderem der technisch-maschinelle Nachweis (z.B. erbracht von Geigerzähler, historischen Fotoplatten 32, Röntgenaufnahmen), die körperliche Evidenz (z.B. kribbelnde Füße, Silikose, Krebs, Alkoholismus), technisch-korporale Wahrnehmungsprothesen (z.B. Vibrationsgürtel der DDR-Staatsicherheit 33) und mythologisch-erinnerungspolitische Einschreibungen wie die visuelle Reflexion ruraler Geschichten und Mythen (z.B. die Spiralhopser 34 oder auch Springteufel genannt), der Besuch von Museen als Resonanzräumen der Erinnerungskultur oder die Recherche in historischen Archiven als »Landschaft der Abwesenheiten, voller Leerstellen und Löcher«. 35 Was tun angesichts dieser Beweisvarianten? Unterliegt es am Ende doch einer Entscheidung, ob wir die Strahlung erkennen können oder nicht? Die Unvorstellbarkeit radioaktiver Auswirkungen gilt Gabriele Schwab zufolge auf zwei Skalen: sowohl auf der großen Skala der tiefen Zeit und ihrer materiellen Erscheinungsformen als auch auf der kleinen Skala der molekularen Materialität und des Seins. 36

Mareike Bernien und Alex Gerbaulet, Sonne Unter Tage, 2022, Experimentalfilm, 39 Min., Still: Min. 30:20.

Konstant wechseln die hauntologischen Beweistechniken für die radioaktive, »handelnde Strahlung« 37 (lat. radiare, strahlen, activus, tätig, wirksam) im Film die Register zwischen der großen und kleinen Skala wie auch zwischen mythischen, technologischen und korporalen Zugängen hin und her: Beispielsweise erzählt eine Sprecher:innenstimme von einer Morsezeichen sendenden Taschenlampe, die aus einem Wohnungsfenster auf blinkende Industrieschornsteine gerichtet worden sei; anonyme Personen gehen nachts mit UV-Taschenlampen in archivalische Orte wie das Museum Uranbergbau Bad Schlema, wo Gestein und Dokumente aufleuchten; streifen mit technischen Hilfsinstrumenten wie dem Geigerzähler durch die vom nuklearen Erbe geformte Landschaft oder schlagen mit bloßen Händen die Steine als eine auditive Wiederholung der Brechung und Zerkleinerung des Erzes aneinander: »Klack klack klack«.

Mareike Bernien und Alex Gerbaulet, Sonne Unter Tage, 2022, Experimentalfilm, 39 min., Still: Min. 17:11.

Die Beweissicherung für die Auswirkungen der nuklearen Strahlung und die unter Verschluss gehaltene Geschichte der Wismut wird in Sonne Unter Tage als in höchstem Maße instabil dargestellt. Die filmischen Erzähler:innen setzen sich kontinuierlich mit Aufzeichnungsmedien auseinander, führen Uneindeutigkeiten sowie Ungereimtheiten vor bzw. produzieren diese mit, indem sie beispielsweise eine Röntgen-Filmrolle im Schotter vergraben 38. Die Kombination aus unzulänglichen Indizien lässt Momente der Differenz, der pluralen Wahrheiten und des Nicht-Wissens entstehen. Die unterschiedlichen Beweistechniken umkreisen die besondere Agency des Materials. Sie legen sich wie ein puzzleartiger Saum um die eigentliche Frage der Beunruhigung, die die Wirkmacht des Materials auslöst. Mit jeder Beweissuche rutscht der Film auf eine andere Ebene, und seine Poetizität verstärkt die Verknüpfung der Ebenen Korporalität und Landschaft, Visualität und Extraktion, Konkretion und Abstraktion, ›Reinheit‹ und Kontamination wie auch derjenigen der Erinnerung von unten und des kollektiven Gedächtnisses miteinander. In den Zwischenräumen des Erzählten und Verbildlichten und inmitten der künstlerischen »Bohrungen durch die Geschichte« 39 versucht Sonne Unter Tage die Gleichzeitigkeit dieser Ebenen und deren Verflechtungen, Schnittstellen und Überlappungen mit der erweiterten Umwelt darzustellen. Durch die Inszenierung bei Nacht, den Einsatz von UV-Licht und die mit einer Infrarotkamera hergestellten Bilder bewegt sich die filmische Arbeit visuell an den Rändern des für das menschliche Auge erkennbaren Spektrums. Durch diesen Fokus auf das kaum Erkennbare unterlaufen Bernien und Gerbaulet schließlich auch erwartbare Darstellungen der umweltlichen Konsequenzen aus Uranabbau und fossilem Sozialismus wie u.a. mondlandschaftsähnliche Bodenerosionen, verlassene Dörfer, abgestorbener Wald, Halden, Abwasserseen, Schlammdeponien, Sondereinlagerungsbereiche oder Verschmutzungen großer Landstriche.

Stattdessen sehen wir Instrumente, Geräte, Schächte, Flüssigkeitsreste und Partikel, die die Landschaften und Korporalitäten durchziehen und kontrollieren: Sie wirken wie die von der Kulturwissenschaftlerin Livia Monnet beschriebenen »Immanations-Bilder« 40, die die verkörperte Erfahrung des Lebens, (Mit-)Denkens, und der Resilienz unter den Bedingungen des extraktiven nuklearen Kapitalismus exemplifizieren. Livia Monnet beschreibt das ästhetische »Immanations-Bild« als ein performatives Bild-Ereignis, das die immanente, lebendige Erfahrung der lebenden und nicht-lebenden Wesen mit der Existenz im globalen Kapitalismus und der kolonialen Moderne in sich vereine. 41 Das Beunruhigende, Unerzählte und Unvorstellbare des strahlenden Gesteins und die materiell eingeschriebenen, schwer identifizierbaren Unmenschlichkeiten kolonialer Geografien 42 werden mittels der vordergründig nüchternen und subtilen »Immanations-Bilder« in Sonne Unter Tage greifbarer: Assemblage für Assemblage bringen sie die langsame Gewalt und die für Körper, Ökosysteme und Umwelten schädlichen (Werdens-)Prozesse und Beziehungen zutage. Und das verdrängte Archiv beginnt zu strahlen.

Ulrike Gerhardt ist eine Kunst- und Kulturwissenschaftlerin, die aus postsozialistischer und erinnerungstheoretischer Perspektive zur Transformationsgeschichte, beunruhigenden Materialitäten und digitalen Bildpraktiken nach 1989/1991 forscht und publiziert. Seit Frühjahr 2024 arbeitet sie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Kunst und visuelle Kultur im BMBF-Verbundprojekt DigiProSMK. Gemeinsam mit Suza Husse ist sie Co-Leiterin der nomadischen Videokunstplattform D’EST und realisierte 2023 den Zyklus Postsozialismus als Methode. Anti-Geografien kollektiver Begehren u.a. mit den Teilnehmenden krëlex zentre, Fehras Publishing Practices und Nhà Sàn Collective. 2024 wird ihre Dissertation zum ostfuturistischen Erinnern in postsozialistischer Videokunst veröffentlicht (Berlin: De Gruyter).

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