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Krankheit als Ereignis. Krebs und Transformation

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Zofia nierodzińska

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Krankheit als Ereignis. Krebs und Transformation

Zofia nierodzińska

»Gleichzeitig ist der Krebs selbst [...] auch ein Vorwand, um über alles andere zu sprechen – über das Leben und all seine Genüsse. Beschränke ich mich mit all dem auf die Rolle eines Mädchens mit Krebs? Nun, wenn man Krebs hat, sind die Leute eher bereit, einer* zuzuhören (und das sagt etwas über eine*n aus, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer).« 1

Autor:in unbekannt, ohne Titel, 1995, Foto aus dem Archiv des Verbands Amazonki Warszawa Centrum, analoger C-Print, 10×15 cm.

Krankheitssolidarität

»Amazonki« – so lautet die Selbstbezeichnung von Menschen mit Brustkrebserfahrung, die einem der zahlreichen, über das ganze Land verstreuten, gleichnamigen Clubs angehören. 2 Das Foto, mit dem ich diesen Essay beginne, habe ich bei Recherchen im Archiv des ersten in Polen gegründeten Clubs »Amazonki Warszawa Centrum« gefunden. Meine Forschung fand im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Ausstellung »Creative Sick States: AIDS, CANCER, HIV«  3 statt, die Ende 2019, Anfang 2020 in der Städtischen Galerie Arsenal in Poznań zu sehen war. Der Aktivismus der Amazonen seit 1987 war ein Ausgangspunkt für die Ausstellung.

Das Foto zeigt Frauen in farbenfrohen Badeanzügen. Drei von ihnen tragen Gummikappen auf dem Kopf, zwei haben sie bereits abgenommen. Eine der Amazonen, diejenige im rosa Badeanzug, blickt direkt in die Kamera, die anderen lesen eine Frauenzeitschrift namens Uroda [Schönheit]. Hinter ihnen stehen Kleiderspinde; vermutlich wurde das Foto in der Umkleidekabine eines Schwimmbades aufgenommen. Die Menschen unterschiedlichen Alters scheinen von der bunten Modepresse fasziniert zu sein. In den 1990er Jahren boomten Lifestyle-Magazine auf dem neuen osteuropäischen Markt. Uroda löste Moda i życie praktyczna [Mode und praktisches Leben] ab, eine Zeitschrift, die im kommunistischen Nachkriegspolen erschien und das Bild der Mutter Polin, also der unabhängigen Mutter und berufstätigen Frau, 4 prägte. Die Zeit des politischen Umbruchs brachte andere Weiblichkeitsmodelle mit sich: Nicht mehr die pragmatische Mutter Polin, sondern die schlanke Geschäftsfrau war der neue Bezugspunkt. Ich wage zu bezweifeln, dass die Zeitschrift Uroda praktische Ratschläge für die Amazonen hatte, die damals eine Gemeinschaft auf der Grundlage ihrer geteilten Krankheitserfahrungen aufbauten.

Die ersten Berichte über persönliche Erfahrungen mit Brustkrebs in den polnischen Medien erschienen in den Kolumnen der Schriftstellerin und Prominenten Krystyna Kofta. Sie wurden in einem anderen Modemagazin veröffentlicht: Twój Styl 5 [Dein Stil], die ein Jahr nach Beginn der Transformation, also 1990, auf den polnischen Markt kam – im polnischen Kontext wird von Transformation statt von Wende gesprochen und damit eher ein Prozess als ein Ereignis bezeichnet. In dem veröffentlichten Tagebuch Lewa wspomnienie prawe [Die Linke erinnert sich an die Rechte] beschreibt Kofta den Alltag einer Krankheit im Alltag einer Person des öffentlichen Lebens mit weitreichenden Kontakten und einem ausgeprägten sozialen Habitus, der ziemlich weit von der Realität der meisten kranken Menschen in Polen entfernt war und ist.

Andrew Sondern, [Matuschka], Cover The New York Times Magazine, 15. August 1993. © Andrew Sondern / The New York Times.

Ein 1993 in The New York Times Magazine veröffentlichtes Foto von Matuschka mit einer Mastektomienarbe wurde 1995 ebenfalls in Twój Styl reproduziert. Das amerikanische Fotomodell russischer Herkunft war die erste Medienberühmtheit, die sich traute, ihre Operationsstelle öffentlich zu zeigen. Keine einheimische Amazone, sondern ein amerikanisches Model wurde so zur Ikone für Brustkrebs im Polen der Nachwendezeit. Dies war Teil der allgemeinen Atmosphäre der 1990er Jahre, die geprägt war von der Faszination für das neue wirtschaftliche und soziale System, das mit der Übernahme westlicher kultureller Muster und der Unsichtbarmachung lokaler Praktiken einherging. Die Brustkrebsaktivistinnen selbst, die sich eine kollektive Identität auf dem sicher weit entfernten Mythos der Amazonen aufbauten, machten die Aufgabe nicht leichter, ein starkes Bild des lokalen Aktivismus zu etablieren. Trotz des Mangels an aussagekräftigen Bildern war ihr Aktivismus sehr wirkungsvoll und trug dazu bei, die Wahrnehmung von Brustkrebs von einer tabuisierten Krankheit, um die sich jede Einzelne kümmern muss, zu einem breit diskutierten gesellschaftlichen Thema zu machen.

Krankheitsbilder

Autor:in unbekannt, ohne Titel, 1988, Foto aus dem Archiv des Verbands Amazonki Warszawa Centrum, analoger C-Print, 9×13 cm.

Ein weiteres Foto aus dem Amazonenarchiv zeigt eine Person mit Narbe. Es ist eine medizinische Dokumentation eines Eingriffs, der Ende der 1980er Jahre durchgeführt wurde. Darauf deuten die leicht verwaschenen, warmen Farben hin, die für die in sozialistischen Ländern beliebten ORWO Filme 6 charakteristisch sind. Die Fotografie ist symmetrisch aufgebaut, wobei die Mitte durch ein direkt auf den Körper gezeichnetes Rechteck definiert wird. Mit schwarzem Filzstift gezogene Linien bilden eine Komposition mit der Naht, einer Operationsnarbe, die in einem Bogen von der rechten Achselhöhle bis zum Brustbein verläuft. Die afroamerikanische Schriftstellerin und Feministin Audre Lorde schreibt in ihren 1980 veröffentlichten Tagebüchern 7 über die Mastektomienarbe als Zeichen einer überstandenen Schlacht, auf die man stolz sein sollte. 8 Das Foto der Narbe ist eines der wenigen im Archiv der Amazonen [Menschen mit Brustkrebserfahrung], das die Krankheit oder, genauer gesagt, eine Spur von ihr zeigt. Es wurde mit einer guten Kamera und professioneller Beleuchtung aufgenommen. Mit seinem symmetrischen Bildausschnitt und der Nahaufnahme der Operationsstelle erinnert es ästhetisch an die Fotografien des amerikanischen Künstlers Robert Mapplethorpe, der die klassische Bildkomposition für die Darstellung schwuler Erotik verwendete. Die Fotografie aus den Amazonen-Chroniken, anonym aufgenommen, verursacht eine ästhetische Dissonanz; zwischen die Seiten der Chroniken eingefügt, entlarvt das Porträt der Narbe die medizinische Realität der Krankheit. Es hebt das Fehlen hervor. Es zeigt, was normalerweise unter der »Maske der Prothese« 9 verborgen ist, wie Audre Lorde den standardisierten Ästhetisierungsprozess nach einer Mastektomie nennt.

Der Pyjama der abgebildeten Person ist gleichzeitig mit einem Einsatz versehen, der die Form der Brust imitiert. Der Einsatz hat eine ästhetische Funktion. Die Asymmetrie wird verdeckt, um die Sehgewohnheiten der Umstehenden nicht zu verletzen, auch wenn es sich nur um andere Patient:innen und medizinisches Personal handelt. Anne Boyer schreibt in ihrer mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Pathografie: »Es wird erwartet, dass wir [die Kranken] unser Elend für uns behalten, unsere Tapferkeit aber an alle verteilen.« 10 Die Kranken, und vor allem die kranken Frauen, haben also die Aufgabe, unsichtbar zu bleiben, um die Mehrheit der ›gesunden‹ Gesellschaft nicht mit ihrem Zustand zu belasten.

Mit Ausnahme dieses Fotos präsentieren sich die Amazonen meist sportlich und fröhlich. Das Verbergen von Schwäche scheint eine allgemein akzeptierte, vereinsspezifische Konvention zu sein. Amazonen verbergen ihre Narben. Diese umsichtige Auslöschung des Tumors aus der Repräsentation sind Teil des Weiblichkeitsideals, das sowohl von der in Polen tief verwurzelten patriarchalischen Gesellschaft als auch vom neu errungenen Kapitalismus mit seinen visuellen Codes gefördert wird. 11 Beide Systeme schreiben vor, dass Personen, die als Frauen gelesen werden, vor allem normativ attraktiv sein müssen; Brustkrebs und Mastektomie reichen aus, um Individuen als andersartig zu stigmatisieren und vielleicht sogar aus der öffentlichen Debatte auszuschließen. Diese gesellschaftliche ›Norm‹, die keinen Mangel anerkennt, wird in den meisten visuellen Darstellungen von Menschen mit Brustkrebs in Polen von den 1990er Jahren bis heute reproduziert und etabliert.

Dies wird durch die Art und Weise der Porträts und (Selbst-)Darstellungen der Menschen auf den Archivfotos der drei Vereine (Łomża, Warschau und Poznań) bestätigt, auf denen – zumeist – lächelnde Frauen unterschiedlichen Alters zwischen 30 und 60–70 Jahren zu sehen sind. Sie werden bei Sportwettkämpfen (sog. Spartakiaden), Maskenbällen, Ausflügen und Pilgerfahrten gezeigt. Sie wirken lebenslustig und aktiv. Das Foto mit der Narbe bricht aus dieser Konvention aus. Es löst in mir eine Faszination aus, die sich mit einer gewissen Distanz mischt. Es fällt mir schwer, mich einer voyeuristischen Anziehungskraft zu entziehen, die von der Naht und dem Bereich der rechten Brust ausgeht, der auf dem Foto in goldbraunen Farben erstrahlt. Beim Betrachten des Fotos entsteht ein unheimliches Gefühl, das dem Wesen des Abjekten 12 ähnelt. Einerseits erinnert das Bild an etwas Nahes und Vertrautes – was durch den engen Bildausschnitt und die Nahaufnahme der Operationsstelle unterstrichen wird – andererseits aber macht es auch Angst, die mit dem Schrecken einer Krankheit verbunden ist, deren Name allein schon Panik auslösen kann.

Autor:in unbekannt, ohne Titel, 1995, Foto aus dem Archiv des Verbands Amazonki Warszawa Centrum, analoger C-Print, 10×15 cm.

Das andere Gesicht der Amazonen ist ein karnevaleskes, ludisches Spektakel, das an Drag-Strategien erinnert, die auf kultureller geschlechtlicher Überidentifikation beruhen, hier kombiniert mit dem Bild der gesunden, einfallsreichen Frau: Die Mutter Polin. 13

Autor:in unbekannt, ohne Titel, 1995, Foto aus dem Archiv des Verbands Amazonki Warszawa Centrum, analoger C-Print, 10×15 cm.

Eine Gruppe von Menschen in einem Schwimmbad. Die Amazonen-Meerjungfrauen sehen glücklich und gesund aus. Anzeichen von Krankheit – welcher Art auch immer – sind auf dem Foto nicht zu erkennen. Erst der Kontext, in dem ich das Foto gefunden habe (das Amazonenarchiv), verrät mir, dass es sich um Menschen handelt, die an Krebs erkrankt sind oder waren.

Beim Betrachten des Fotos drängt sich mir die unsensible Frage auf, wie viele der Abgebildeten weitere fünf Jahre überlebt haben. In den 1990er Jahren konnten nur 63 Prozent der Menschen in Polen mit einem Langzeitüberleben nach einer Krebserkrankung rechnen, was weit unter dem Durchschnitt in anderen Ländern des globalen Nordens 14 lag. Wie viele verloren ihren Arbeitsplatz? Damals war Krebs noch ein Stigma, und Frauen, die sich einer Brustamputation unterzogen hatten, verbargen nicht nur ihre Narben, sondern schwiegen auch über ihre Krankheit und die damit verbundenen Behandlungen. Viele entschieden sich aus Scham gegen eine Behandlung.

Neben den kritischen Fragen, die sich beim Betrachten des Fotos aufdrängen, fühle ich mich von dem warmen, familiären Aktivismus der Amazonen angenehm angezogen. Frauen mittleren Alters aus unterschiedlichen sozialen Schichten praktizieren trotz einer lebensbedrohlichen Krankheit einen Aktivismus der Fürsorge, der auf dem Aufbau von Beziehungen beruht. Der Krebs hat sie zueinander geführt.

Iza Moczarna-Pasiek, Kalendarz Amazonek 2005, Februar, digitaler C-Print, 42×29 cm; Quelle [zuletzt: 04.01.2024]. © Iza Moczarna-Pasiek.

Krankheitszustände

Mein Interesse an Amazonen geht auf die Ausstellung »Creative Sick States: AIDS, CANCER, HIV« zurück, die ich gemeinsam mit Paweł Leszkowicz, Luiza Kempińska und Jacek Zwierzyński 2019 in der Städtischen Galerie Arsenal kuratiert habe. Ziel des Projekts war die Vernetzung und Präsentation von zwei Patient:innenbewegungen: zum einen die der Brustkrebspatient:innen oder Amazonen, die sich seit den späten 1980er Jahren formierte, zum anderen Organisationen und Kollektive zur Unterstützung von Menschen, die mit HIV leben. In diesem Zusammenhang wurden Porträts von Personen und ihren Mastektomienarben gezeigt, u.a. in den Fotografien von Iza Moczarna-Pasiek, die im Amazonenkalender 2005 15 veröffentlicht wurden; hier mit deutlich emanzipatorischer Intention. Der Kalender erinnerte an die Erotikprodukte des Playboy Magazins, nur dass statt junger, fitter ›Bunnies‹ Nacktfotos reifer Menschen mit Narben gezeigt wurden. Die Fotografien sollten das Tabu des »Mangels«  16 brechen, der Abweichung von der Norm, die durch vollständige und damit als attraktiv empfundene Körper definiert wird. Gleichzeitig reproduziert der Kalender aber auch die stereotype Wahrnehmung der Darstellung von Weiblichkeit als heteronormatives Objekt der Begierde. Narben werden nur von wenigen Models des Kalenders gezeigt, die meisten verdecken die Operationsstelle mit einem Attribut wie einem Hut, einem Holzvogel oder mit Perlen. Dabei fetischisiert die Suche nach der Stelle des Krebses den Blick auf seltsame Weise.
Wenn ich heute das Wort »Brustkrebs« in eine Suchmaschine eingebe, finde ich eine Menge rosa Schleifen, Aufklärungskampagnen über die Wichtigkeit des Mammographie-Screenings, das Instagram-Profil einer »Krebs-Fashionista« bis hin zu einem Beitrag über “Krebspornos“, den ich nicht zu öffnen wage. Darstellungen, die vor 15 Jahren noch als emanzipatorisch hätten gelten können, werden in den Medien immer wieder reproduziert, aus dem Zusammenhang gerissen und damit oft inhaltsleer. Krebs ist zu einem kommerziellen Produkt geworden.

Krankheitsbeziehungen Annie, Beth und Brustkrebs

Während der zweiten Legislaturperiode der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit fand in der Städtischen Galerie Arsenal in Poznań eine Ausstellung des Duos Annie Sprinkle und Beth Stephens statt. 17 Sprinkle wurde in der Kunstwelt mit ihrer Performance Public Cervix Announcement aus dem Jahr 1990 bekannt, in der sie, Künstlerin und Pin-up-Girl, das Publikum über die weibliche Sexualanatomie aufklärte, indem sie ihren Gebärmutterhals zeigte. Stephens ist Filmemacherin, Bildhauerin und Professorin an der Universität von Santa Cruz in Kalifornien. Ab 2002 begannen die beiden Künstlerinnen zusammenzuarbeiten, genauer gesagt, ihre erweiterte menschliche und nicht-menschliche Liebesbeziehung in Form von jährlichen Hochzeitszeremonien zu praktizieren. Im Jahr 2005 wurde bei Sprinkle Brustkrebs diagnostiziert, woraus das »Breast Cancer Project« und eine Fotoserie mit dem Titel Hairotica (2006) folgte und eine Zusammenarbeit des Duos mit David Steinberg. Die Fotografien, die die Krankheit und den Behandlungsprozess über mehrere Jahre dokumentierten, sowie die von Steinberg aufgenommenen Bilder, die die Künstler:innen als “Cancer Erotica“ bezeichneten, wurden in Poznań in einem Fotoplastikon ausgestellt. Das Fotoplastikon ist ein fotografisches Ausstellungsgerät aus dem frühen 20. Jahrhundert, bei dem man wie durch ein Fernglas blicken muss, um die Fotos sehen zu können, wie bei einer traditionellen ‚Peepshow’. Die Intimität dieser Erfahrung brachte jedoch nicht das klassische visuelle Vergnügen, d.h. die heteronormative Objektivierung des weiblichen Körpers, sondern konfrontierte die Betrachter:innen mit einem realistisch dargestellten chirurgischen Eingriff, dem Fotografien von alltäglichen Krankheitsbeziehungen mit ihrer Intimität und erotischen Komplizenschaft gegenübergestellt wurden.

Elisabeth Stephens, Annie Sprinkle, David Steinberg, Hairotica, 2005, digitales Foto, Format variabel.

Die Intimität der Krankheitserfahrung wird in David Steinbergs Schwarz-Weiß-Porträt von Annie und Beth besonders deutlich. Annie lehnt an einem hölzernen Bettgestell, trägt eine Brille und wirkt konzentriert; sie ist damit beschäftigt, ihrer Partnerin den Kopf zu rasieren. Beth schaut direkt in die Kamera, ihr Blick strahlt Ruhe und Zuversicht aus, sowohl für Annie als auch für die Person auf der anderen Seite der Kamera. Im Vordergrund ist das fein gelockte Haar zu sehen, das unter der Vertiefung in ihrer Achselhöhle hervorlugt. Es ist die Krankheit und die daraus resultierende Schwäche in Form von Haarausfall, die die Beziehung zwischen den beiden erwachsenen Frauen stärkt. Beim Betrachten des Fotos kann man die warme Intimität beinahe spüren.

Dagmar Schultz, Audre Lorde, 1991, analoger C-Print, 10×15 cm.

»Ich bin selbst eine brustamputierte Frau, die glaubt, dass wir unseren Gefühlen Ausdruck geben müssen, damit sie gesehen und respektiert werden und damit sie nutzen.« 18

Audre Lorde (1934–1992) wird im Alter von 43 Jahren mit Brustkrebs diagnostiziert. Sie war eine der Pionierinnen eines Krankheitsdiskurses, der mit einer starken emanzipatorischen Botschaft verbunden war. Sie schrieb: »Ich möchte meinen Zorn und meinen Schmerz und meine Angst vor Krebs nicht in noch einem Schweigen versteinern lassen«  19 und weigerte sich damit, über Krebs, seine Ursachen und Folgen zu schweigen. In ihrem Fall überlagerte sich die Erfahrung der Krankheit mit anderen Ausgrenzungen entlang ethnischer und geschlechtsspezifischer Grenzen, so dass Krebs für sie ein Symptom für das Leben in einer Gesellschaft und einem System war, das auf Ungleichheit basiert.

Heutzutage, wo die Erzählungen über Krebs hauptsächlich aus der Perspektive der Überlebenden und der sie unterstützenden Pharmaunternehmen geprägt sind, werden die sozialen und wirtschaftlichen Ausgrenzungen, die die Krankheit nur verdeutlicht, meist verschwiegen. Auch die Möglichkeit des Todes als Folge der Krankheit, die nicht in die Erfolgsgeschichte des »Kampfes gegen den Krebs« passt, wird selten thematisiert. Anne Boyer stellt in Anlehnung an Lorde fest, dass es nicht darum geht, das Schweigen zu brechen, sondern dem Informationshype über Krebs zu widerstehen, um zu hören und darüber zu sprechen, was Menschen in einer Grenzsituation wirklich empfinden:

»Dem Schweigen um Brustkrebs, dem Lorde begegnete, entspräche heute der unablässige Sprachlärm, den Brustkrebs erzeugt. Die Herausforderung besteht nicht mehr darin, in ein Schweigen hineinzusprechen, sondern darin, Widerstand gegen das alles übertönende Rauschen zu üben.«  20

Lorde war eine entschiedene Gegnerin des Tragens von Prothesen, obwohl sie Frauen, die sich dafür entschieden, nicht verurteilte. Persönlich betrachtete sie Prothesen als »kosmetische Verschleierung«, als Dekoration, die die Gesellschaft von den Folgen des Lebens in einer verschmutzten und ausgebeuteten Umwelt ablenken sollte. Sie schrieb über tierische Fette und die damit konsumierten Antibiotika, über verschmutzte Luft und verseuchtes Wasser, die Krankheiten wie Krebs verursachen. 21 Sie setzte sich dafür ein, Narben wie eine Heldin zu zeigen, die einen langen und harten Kampf hinter sich hat, als eine, die sich nicht bewusst für ein Leben mit Krebs entschieden hat, sondern sich darüber freut, wer sie durch diese Erfahrung geworden ist. 22 Die Autorin von Sister Outsider (1984) weigerte sich, die Schuldgefühle auf sich zu projizieren, die mit dem »weiblichen Aussehen« verbunden sind, das eine patriarchalische Gesellschaft den Frauen aufzwingt. Die Prothese verbirgt dieses Wissen und diese konkrete Erfahrung und ästhetisiert die Realität der Krankheit, anstatt zu helfen, sich ihr zu stellen. Sie bringt die Person nach der Brustamputation, in der Regel eine Frau, in eine Situation der Scham als unvollständiges Objekt des Begehrens, das seine erotische Funktion nicht mehr erfüllt. Lorde argumentierte, dass Krankheit eine Erfahrung sei, die zum Leben gehöre, so wie die Nähe des Todes ein wichtiger Teil des Lebens ist. Sie kann ein Zeichen von Wachstum sein, ein Grund zu schreiben und Befriedigung darin zu finden, durch den Körper und seine (Un-)Möglichkeiten in der Welt zu sein; sie ist eine Folge des Lebens, nicht seine Verleugnung: »Die Reaktion auf die Krise, die Brustkrebs im Leben einer Frau auslöst, folgt einem komplexen Muster, dessen Form und Farbe sich daraus bestimmt, wer diese Frau ist und wie sie ihr Leben gelebt hat.« 23 Für Lorde war Krebs kein Feind, sondern ihr Begleiter.

Katarzyna Pierzchała, ohne Titel, 2020, digitales Foto,
Quelle [zuletzt: 09.01.2024], © Katarzyna Pierzchała.

Fast dreißig Jahre nach dem Erscheinen der Memoiren von Audre Lorde beschloss eine polnische Aktivistin, Monika Dąbrowska, bei einer Demonstration für reproduktive Rechte in Warschau 24 eine starke Botschaft zu senden. Sie kletterte auf das Auto ihrer Freundin, zog ihr T-Shirt aus, entzündete eine rosa Rauchfackel und hielt eine Rede, während sie die Narben ihrer doppelten Brustamputation zeigte. Sie sagte, wenn sie den Krebs überlebt hätte, würden die Demonstrant:innen auch die rechtsextreme Herrschaft der Partei Recht und Gerechtigkeit [Prawo i Sprawiedliwość] überleben. Aus der Perspektive des Jahres 2024 lässt sich rückblickend sagen, dass sie damit Recht hatte.

Krankheit als Ereignis

Dieser Essay, den ich mit einem Foto von Amazonen in der Umkleidekabine eines Warschauer Schwimmbades begonnen habe, soll die Relationalität der Krankheitserfahrung hervorheben, vom aktivistischen Engagement der Amazonen bis hin zur sehr persönlichen Beziehung zur Krankheit, wie sie in den Pathografien und Fotografien zum Ausdruck kommt. Die Autor:innen erkennen oft die Wechselbeziehung zwischen nicht-menschlichen Akteur:innen, mit denen sie Beziehungen oder, wie manche es nennen, Assemblagen 25 bilden. Denn Krankheit findet nie in einem Vakuum statt. Sie ist ein Ereignis, das sich in der sozio-materiellen Sphäre abspielt. Krankheit ist Teil und Folge des Lebens. Sie ist ein Begleiter. Krankheiten und Pandemien sind sowohl Symptome des Lebens auf einem zerstörten Planeten als auch Dialogpartner für Überlegungen, was anders gemacht werden kann und sollte, um die ungleich verteilte Erfahrung von Krankheit, die oft durch Geburtsort und sozioökonomischer Status bestimmt wird, zu politisieren. Die Darstellung von Krankheit, einschließlich Brustkrebs, in der Kultur ist immer fragmentiert. Die situierte Perspektive ist unweigerlich durch einen Mangel gekennzeichnet. Dies kann in einen Vorteil verwandelt werden, indem man bewusst eine Position wählt, von der aus man spricht, oder indem man strategisch schweigt, um den dominanten Erzählungen, die auf dem Erfolg des Überlebens basieren, zu widerstehen.

Zofia nierodzińska: Autorin, Kuratorin, bildende Künstlerin; stellvertretende Direktorin der Städtischen Galerie Arsenal in Poznań in den Jahren 2017–22. Sie beschäftigt sich mit der Kunst des postsozialistischen Raums, mit der Zugänglichkeit von Kultur und mit Verletzlichkeit als Grundlage für den Aufbau translokaler Solidaritätsnetzwerke. Sie ist Herausgeberin der Publikationen Politiken der (Un-)Zugänglichkeit (2023) und, gemeinsam mit Jacek Zwierzynski, von Creative Sick States: AIDS, CANCER, HIV (2021) sowie Acting Together (2022). Sie ist Kuratorin und Co-Kuratorin von Ausstellungen wie »Politics of (In)Accessibilties. Citizens with Disabilities and Their Allies« (2022), »Creative Sick States: AIDS, CANCER, HIV« (2020) oder »The Romantic Adventures of Beth Stephens, Annie Sprinkle and Breast Cancer« (2018) in der Städtischen Galerie Arsenal in Poznań.
Mehr auf ihrer Website.

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